Nabelschnurmanagement - Experteninterview mit Prof. Berger

13.09.2024

Prof. Dr. med. Richard Berger leitet die Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Marienhaus Klinikum St. Elisabeth Neuwied und bietet umfassende und moderne Begleitung während der Schwangerschaft. Als erfahrener Perinatalmediziner steht er den Patientinnen sowohl während als auch nach der Geburt zur Seite und verfügt auch über fundierte Kenntnisse im Bereich der Krebserkrankungen. Unter seiner Führung hat sich die Klinik zu einer anerkannten Einrichtung entwickelt, die Patientinnen eine Versorgung auf höchstem Niveau bietet. Prof. Dr. Berger legt besonderen Wert auf die menschlichen Aspekte der medizinischen Betreuung und auf eine exzellente fachliche Kompetenz seines Teams. Die individuelle Betreuung der Patientinnen und die Entwicklung maßgeschneiderter Behandlungsmethoden stehen dabei im Mittelpunkt.

Die Klinik bietet ein breites Spektrum an Leistungen von der Perinatalmedizin über die Geburtshilfe bis hin zur Gynäkologischen Chirurgie und der Behandlung von Inkontinenz. Auch komplexe Schwangerschaftsverläufe werden dank der Zusammenarbeit mit Spezialisten und modernen diagnostischen Verfahren sorgfältig begleitet. Das Perinatalzentrum ist weit über die Region hinaus bekannt und bietet höchste Versorgungsstandards, insbesondere bei Risiko- und Mehrlingsschwangerschaften. Prof. Dr. Berger hat zudem eine eigene Arbeitsgruppe zur Vorhersage und Prävention von Frühgeburten gegründet und koordinierte die Leitlinie „Prävention und Therapie der Frühgeburt“ für Deutschland, Österreich und die Schweiz.

Seine Expertise in der minimal-invasiven Gynäkologischen Chirurgie ermöglicht schonende Eingriffe, die eine schnelle Erholung der Patientinnen fördern. Neben der gynäkologischen Chirurgie leitet er auch das zertifizierte Gynäkologische Krebszentrum und das Brustzentrum, die für ihre erstklassige Diagnostik und Therapie bekannt sind. Während einer Schwangerschaft spielt die Nabelschnur eine entscheidende Rolle, da sie den Fötus mit lebenswichtigen Nährstoffen und Sauerstoff versorgt. Während der Geburt ist sie wichtig für den Übergang des Neugeborenen, indem sie weiterhin Sauerstoff liefert, bis das Baby selbstständig atmen kann.

Die Redaktion des Leading Medicine Guide sprach mit Prof. Dr. Berger und erfuhr mehr zum wichtigen Thema Nabelschnurmanagement.

prof dr med richard berger leading medicine guide

Die Schwangerschaft ist eine transformative Phase im Leben einer Frau, geprägt von biologischen und emotionalen Veränderungen. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielt die Nabelschnur, die als lebenswichtige Verbindung zwischen Mutter und Kind fungiert. Sie sorgt nicht nur für die Versorgung des Fötus mit Nährstoffen und Sauerstoff, sondern unterstützt auch den Übergang des Neugeborenen in die Welt außerhalb des Mutterleibs. Die besondere Bedeutung der Nabelschnur zeigt sich in ihrer essenziellen Rolle für ein gesundes Wachstum und eine problemlose Entwicklung des ungeborenen Kindes. Das Nabelschnurmanagement umfasst die verschiedenen medizinischen Vorgehensweisen und Entscheidungen im Umgang mit der Nabelschnur unmittelbar nach der Geburt eines Kindes. Das Ziel des Nabelschnurmanagements ist es, die bestmögliche gesundheitliche Grundlage für das Neugeborene zu schaffen und gleichzeitig eventuelle medizinische Vorteile zu nutzen. Über die Nabelschnur ist die Plazenta mit dem Fötus verbunden. In der Nabelschnur verlaufen eine Nabelvene und zwei Nabelarterien. Die sauerstoffreiche Blutversorgung erfolgt über die Nabelvene, während die beiden Nabelarterien das sauerstoffarme Blut des Fötus zurück zur Plazenta transportieren.

Die Gesundheit der Nabelschnur während der Schwangerschaft und Geburt wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, die sowohl mütterliche als auch fetale Aspekte umfassen. 

Die Gesundheit der Nabelschnur ist wenig erforscht, und daher kann man auch wenig dazu sagen. Denn die Nabelschnur hat man nie wirklich isoliert betrachtet. Ein Aspekt, der sich zurzeit neu in der Diskussion ergibt, ist, dass man die Transitionsphase intensiver betrachtet, vom Übergang im Mutterleib zu den ersten Minuten nach der Geburt. Und dafür muss man erst einmal verstehen, wie so ein fötaler Kreislauf funktioniert. Denn dieser funktioniert nicht so wie ein erwachsener Kreislauf. Die Plazenta ist dabei auch nicht einfach nur ein Organ, was zugeschaltet ist. Das sauerstoffreiche Blut aus der linken Herzkammer wird durch die Aorta in den Körper des Fötus gepumpt, um die Organe und Gewebe mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Das sauerstoffarme Blut fließt dann über die Nabelarterien zurück zur Plazenta, wo der Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid stattfindet“, beginnt Prof. Dr. Berger unser Gespräch und erklärt zum besseren Gesamtverständnis die zwei verschiedenen Kreislaufformen beim erwachsenen Menschen:

Beim Erwachsenen gibt es zwei Hauptkreislaufsysteme, die eng zusammenarbeiten: den großen Körperkreislauf und den kleinen Lungenkreislauf. Der große Körperkreislauf beginnt im linken Ventrikel des Herzens, das sauerstoffreiche Blut durch die Aorta in den gesamten Körper pumpt. In den Kapillaren der Organe wird Sauerstoff an die Zellen abgegeben und Kohlendioxid sowie andere Abfallprodukte aufgenommen. Das nun sauerstoffarme Blut fließt über die Hohlvenen zurück zum rechten Vorhof des Herzens. Der kleine Lungenkreislauf beginnt im rechten Ventrikel, der sauerstoffarmes Blut durch die Lungenarterien in die Lungen pumpt. In den Lungenbläschen findet der Gasaustausch statt: Kohlendioxid wird abgegeben und Sauerstoff aufgenommen. Das sauerstoffreiche Blut fließt dann durch die Lungenvenen zurück in den linken Vorhof des Herzens. Von dort wird das Blut erneut in den großen Körperkreislauf gepumpt. Beide Kreisläufe arbeiten nahtlos zusammen, um den Körper kontinuierlich mit Sauerstoff zu versorgen und Kohlendioxid abzuführen. Die Pumpleistung des linken und des rechten Herzens ist hierbei gleich, sonst würde das nicht funktionieren, und es würde sich irgendwo Blut anstauen. Beim Fötus ist das anders. Da ist die Pumpleistung des rechten Herzens deutlich größer als die des linken Herzens, weil keine Atmung stattfindet. Es würde daher keinen großen Sinn machen, die Lunge intensiv zu durchbluten. Da ist die Natur schlau, weil sie das Angebot dem Bedarf anpasst“, und ergänzt:

Im Kreislauf des Fötus wird über den Ductus arteriosus (eine temporäre Verbindung zwischen der Lungenarterie und der Aorta) ein Teil des Bluts, das vom rechten Ventrikel des Herzens in die Lungenarterie gepumpt wird, direkt in die Aorta geleitet. Diese Umgehung ist notwendig, da die Lungen des Fötus noch nicht belüftet sind und somit nicht am Blutkreislauf teilnehmen können. Das Blut wird also direkt am linken Ventrikel vorbeigeleitet. Daher ist die Pumpleistung des rechten Herzens größer als die des linken Herzens. Das wenige Blut, das dann von der Lunge in das linke Herz zurückfließt, wird wieder zurückgeworfen in den Körperkreislauf. Von den Beckenarterien zweigen die Arterien ab und gehen in die Plazenta hinein, in der ein Blutaustausch und eine Sauerstoffsättigung des Blutes stattfindet, und dieses sauerstoffreiche Blut wird wieder zum rechten Herzen zurückgeleitet, an der Leber vorbei, über den rechten Vorhof, durch das Foramen ovale in den linken Vorhof, dann in die linke Herzkammer und schlussendlich bevorzugt direkt ins Gehirn. Das ist alles recht komplex, was die fötale Durchblutung aber so besonders macht. Denn nach wenigen Minuten, nachdem das Kind geboren ist, findet eine Umstellung statt“.


Im Marienhaus Klinikum St. Elisabeth Neuwied werden jährlich im Schnitt 1800 Kinder geboren.


Das Nabelschnurmanagement unmittelbar nach der Geburt spielt eine entscheidende Rolle für die langfristige Gesundheit des Neugeborenen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist der Zeitpunkt der Abnabelung. 

Studien haben gezeigt, dass eine verzögerte Abnabelung, bei der die Nabelschnur erst 1-3 Minuten nach der Geburt durchtrennt wird, zahlreiche gesundheitliche Vorteile bietet. Man sollte den Kreislauf, der nach der Geburt ja noch immer durch die Plazenta hindurchgeht, nicht zu früh unterbrechen. Dann passiert nämlich folgendes: Wenn sofort nach der Geburt Nabelschnurklemmen aufgesetzt werden, dann ist das so, als wenn der Fötus noch im Uterus wäre und die Nabelschnur komprimiert würde, was einen sofortigen Abfall der kindlichen Herztöne auslösen würde. Denn durch das Klemmen der Nabelschnur steigt der systemische Blutdruck an, weil man den gesamten nachgeschalteten Kreislauf nach der Plazenta abklemmt. Dies aktiviert die Barorezeptoren des Fötus (spezialisierte Sensoren, die sich in den Wänden bestimmter Blutgefäße befinden und den Blutdruck überwachen), die mit dem Nervus Vagus verschaltet sind (einer der wichtigsten Nerven im menschlichen Körper, der auch für ein gesundes Herz-Kreislauf-System zuständig ist) und führt dann zu einer fötalen Bradykardie (eine verlangsamte Herzfrequenz). Von einer verzögerten Abnabelung profitieren Kinder auch nach mehreren Monaten oder auch Jahren, weil unter anderem die Eisenspeicher gut gefüllt sind. Hierzu gibt es auch eine randomisierte Studie von Andersson (Schweden) aus dem Jahr 2014, bei der Kinder mit verzögerter Abnabelung vier Jahre nach der Geburt untersucht wurden. Die Studie konnte belegen, dass die Kinder, vor allem die Jungen, eine bessere neuromotorische Entwicklung hatten gegenüber Kindern, die sofort abgenabelt wurden. Insofern gibt es bereits Hinweise darauf, dass die verzögerte Abnabelung sich auch später im Leben positiv auswirken kann“, erläutert Prof. Dr. Berger.


Neben den medizinischen Vorteilen spielt das Nabelschnurmanagement auch eine Rolle in der emotionalen und psychologischen Anpassung von Mutter und Kind. Eine behutsame und gut durchdachte Abnabelung kann dazu beitragen, den Übergang für beide zu erleichtern, was sich positiv auf die Bindung und das Stillen auswirken kann.


Aktuelle Empfehlungen und Leitlinien betonen die Vorteile einer verzögerten Abnabelung nach der Geburt. 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) und die International Federation of Gynecology and Obstetrics (FIGO) empfehlen, die Nabelschnur mindestens 1-3 Minuten nach der Geburt des Babys durchzuschneiden. „Man weiß um die Wichtigkeit dieser wertvollen Minuten kurz nach der Geburt schon seit Jahrzehnten, aber es ist in den Kliniken nie so wirklich richtig beachtet worden. Aber gerade jetzt im Bereich der Frühgeburtendiskussion ist das Thema in den letzten Jahren aufgekommen. Wenn man es mit 600-700gr leichten Frühchen zu tun hat, die zu 2/3 per Kaiserschnitt geholt werden, denkt man vielleicht, dass man es nach der Geburt 2-3 Minuten nicht einfach liegen lassen kann bis die Nabelschnur auspulsiert hat, weil das Frühchen doch auskühlen könnte. Man will im Impuls sofort abnabeln, damit es von den Kinderärzten versorgt werden kann. Wenn man aber die Nabelschnur auspulsieren lässt, findet nochmal eine Blutzufuhr von der Plazenta zum Kind statt. Das Blutvolumen beim Neugeborenen steigt damit um 25-30%. Und man vermutet ja, dass dieses Blut dem Kind guttut, dass der Kreislauf dadurch stabiler ist, der Eisenspiegel besser ist usw. Und dann dachte man sich, man könnte doch die Nabelschnur mehrfach ausstreichen, um noch mehr Blut zu dem Fötus zu bringen. Und das hat man jahrelang bei den Frühchen gemacht. Im Jahr 2018 wurde eine prospektive Studie aufgelegt, die bei diesen frühgeborenen Kindern, insbesondere bei denen unter 28 Schwangerschaftswochen, den Vergleich zwischen dem Ausstreichen und dem Auspulsieren der Nabelschnur gezogen hat. Und es wurde festgestellt, dass beim Ausstreichen der Nabelschnur die Hirnblutungsrate bei den kleinen Kindern um das 4-5fache angestiegen war. Das ist auch leicht zu erklären. Denn beim Ausstreichen gibt man innerhalb von wenigen Sekunden ganz viel Blutvolumen in das Kind hinein, was den systemischen Blutdruck hochtreibt. Die kleinen Kinder haben aber kaum eine Autoregulation an den Zerebralgefäßen, und das Blutvolumen schießt in das Gehirn, insbesondere in die germinale Matrix mit fragilen Blutgefäßen, die dann reißen. Deswegen wurde in den Leitlinien für Frühgeburten eingefügt, dass die Nabelschnur bei einer Frühgeburt unter 28 Wochen nicht ausgestrichen werden darf“, schildert Prof. Dr. Berger.


Von einer verzögerten Abnabelung spricht man, wenn man mindestens eine Minute nach der Geburt abwartet, bis man die Nabelschnurklemme setzt, wobei es günstiger ist, etwas länger zu warten. Eine verzögerte Abnabelung sollte nicht gemacht werden, wenn sich die Plazenta vorzeitig abgelöst hat.


Auch kompromittierte Kinder können möglicherweise von der verzögerten Nabelschnurdurchtrennung infolge der erhöhten Blutzufuhr profitieren. Wir sind dabei, dieses bei uns im Haus fest zu integrieren. Es gibt sicherlich noch vieles, was verbessert und weiter durchdacht werden muss. So fehlen noch immer prospektive randomisierte Studien zu den Kindern, die nach der Geburt reanimiert werden müssen. Hierüber muss in einem wissenschaftlichen Rahmen weiter diskutiert werden“, führt Prof. Dr. Berger aus, und wir schließen damit unser Gespräch.

Herzlichen Dank, Professor Dr. Berger, für dieses informative Gespräch!

Weiterführende Links:

https://register.awmf.org/assets/guidelines/015-025l_S2k_Praevention-Therapie-Fruehgeburt_2022-09.pdf

https://register.awmf.org/assets/guidelines/015-083l_S3_Vaginale-Geburt-am-Termin_2021-03.pdf 

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