Schleudertrauma: Ursachen, Symptome und effektive Behandlungsmöglichkeiten - Experteninterview mit Dr. Kügelgen

05.09.2024

Dr. med. Bernhard Kügelgen ist ein renommierter Spezialist für Schmerzmedizin mit beeindruckender Expertise und einem breiten therapeutischen Behandlungsangebot. Seine ganzheitlichen Ansätze sind darauf ausgerichtet, individuell auf die Bedürfnisse seiner Patienten einzugehen und eine punktgenaue Therapie auf Augenhöhe zu entwickeln. Dr. Kügelgen behandelt erfolgreich eine Vielzahl von Schmerzerkrankungen, darunter chronische Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Migräne, Spannungskopfschmerzen und neuropathische Schmerzen. Auch komplexe Erkrankungen wie CRPS (Morbus Sudeck), posttraumatische Schmerzen, Fibromyalgien und neuropsychologische Syndrome gehören zu seinem Spezialgebiet. Darüber hinaus hat er umfassende Erfahrung in der Behandlung von neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose, periphere Nervenschädigungen und die Folgen von Schlaganfällen.

In Koblenz leitet Dr. Kügelgen gemeinsam mit der Physiotherapeutin Cecilija Kügelgen das Therapiezentrum Koblenz und das MVZ Koblenz. Diese Einrichtungen sind spezialisiert auf die Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen und neurologischen Erkrankungen und bieten ein umfangreiches, schnittstellenloses Therapie- und Versorgungsangebot. Das MVZ Koblenz ist zudem das Regionale Schmerzzentrum der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. (DGS) für Koblenz und Umgebung und bietet in fünf Praxen eine umfassende ambulante Krankenversorgung.

Das Therapiezentrum Koblenz ergänzt dieses Angebot durch teilstationäre Rehabilitation und multimodale Therapie-Konzepte, die individuell auf die Patienten zugeschnitten sind. Ein multiprofessionelles Team von fünfzig Mitarbeitern unterstützt Dr. Kügelgen in beiden Einrichtungen, um eine bestmögliche Betreuung der Schmerzpatienten zu gewährleisten. Dabei legen Dr. Kügelgen und sein Team besonderen Wert darauf, die Eigenkompetenz der Patienten zu fördern und ganzheitliche Behandlungsansätze zu entwickeln, die die individuellen Gegebenheiten berücksichtigen.

Dr. Kügelgen bringt neben seiner Spezialisierung in Schmerzmedizin und spezieller Schmerztherapie auch Qualifikationen als Facharzt für Neurologie, Psychiatrie sowie Physikalische und Rehabilitative Medizin mit. Zudem ist er in der Algesiologie, der Wissenschaft der Schmerztherapie, und der Manuellen Medizin (Chirotherapie) qualifiziert. Vor seiner Tätigkeit in Koblenz war Dr. Kügelgen zwanzig Jahre lang in leitenden Positionen an verschiedenen Fachkliniken in Deutschland tätig und sammelte dabei wertvolle Erfahrungen als Oberarzt und Chefarzt.

Seine Expertise und seine Leidenschaft für die Schmerzmedizin spiegeln sich auch in seinen zahlreichen Publikationen und Lehrfilmen wider, in denen er Themen wie Neuroorthopädie, chronische Schmerzerkrankungen und posttraumatische Chronifizierungen behandelt. Als Gründungsmitglied der Neuroorthopädie Deutschland und der Bundesarbeitsgemeinschaft chronischer Kreuzschmerz (BAcK) trägt er aktiv zur Weiterentwicklung seines Fachgebiets bei. Dr. Bernhard Kügelgen setzt sich mit großem Engagement für die bestmögliche Versorgung seiner Patienten ein und bietet ihnen durch seine umfassende Expertise und innovative Behandlungsansätze eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensqualität.

Die Redaktion des Leading Medicine Guide sprach mit Dr. Kügelgen und hatte das Schleudertrauma im Fokus – eine oft unterschätzte Erkrankung.

Dr. Kügelgen Profilbild LMG

Ein Schleudertrauma, medizinisch oft noch als Halswirbelsäulen-Distorsion bezeichnet, ist eine häufige Verletzung, die typischerweise durch einen abrupten Beschleunigungs- und Verzögerungsvorgang, wie er bei Autounfällen auftritt, verursacht wird. Diese plötzliche Bewegung kann zu einer Überdehnung der Halsmuskulatur führen, was eine Reihe von Symptomen hervorruft, darunter allmählich zunehmende Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich, Kopfschmerzen und Schwindel. 

Klinisch typisch ist die meist verzögerte Entwicklung der Beschwerden und Befunde über einige Stunden („Latenz“) sowie lokale Schmerzen, Hypertonus der Nackenmuskulatur und erheblich eingeschränkte und schmerzhafte aktive und passive Bewegung des Kopfes infolge einer Funktionsstörung der Halsmuskulatur. Neben dieser zeitlichen Entwicklung, die für eine Distorsion völlig untypisch ist, fällt auf, dass im Formel-1-Rennsport schwere Verletzungen der Kopf- und Halsregion vorkommen – deswegen das Head and Neck Support System HANS-System, aber eben nicht ein Schleudertrauma. Dieses Phänomen liefert den Schlüssel zum Verständnis des Krankheitsbildes: Bei normal trainierten Menschen entwickelt sich bei einer auch nur geringen Dehnung von angespannten Muskeln, wie sie zum Beispiel bei einem Heckaufprall trotz einer Kopfstütze vorkommen kann, eine Stoffwechselaktivierung in diesen Muskeln. Der Heckaufprall wird über den Sitz den Betroffenen vermittelt, was zu einer reflektorischen Abspannung der Nackenmuskulatur führt. Dazu reicht eine geringe Dehnung der reflektorisch angespannten Nackenmuskulatur. Diese passive Kopfbewegung kann auch durch eine korrekt eingestellte Kopfstütze nicht verhindert werden. Diese Dehnung und die anschließende Stoffwechselaktivierung und eine damit einhergehende Schwellung erklären die Schmerzen und die Bewegungseinschränkung, wie sie solche Patienten nach einigen Stunden aufweisen. Sie klingt normalerweise in einigen Tagen ab, es handelt sich um einen physiologischen Vorgang. Es kann dann in Einzelfällen dazu kommen, dass sich daraus, gerade bei Frauen mit einem schlanken Hals und einer insgesamt schwächeren Muskulatur, aus dieser schmerzbedingten Minderaktivität über einige Tage bis allenfalls 1 bis 2 Wochen, bis diese physiologische Veränderung wieder abklingt, eine muskuläre Insuffizienz entwickelt. Immerhin muss diese Halsmuskulatur den Kopf täglich 16-18 Stunden stabilisieren, was eine enorme Halteleistung bedeutet“, erklärt Dr. Kügelgen und ergänzt:

Die akute Behandlung umfasst meist eine Kombination aus Schmerzmanagement, Physiotherapie und in schwereren Fällen spezifischen medizinischen Interventionen bis hin zur Rehabilitation. Über längere Zeit helfen betäubende Maßnahmen nicht (s. S3-Leitinie LONTS), die Muskulatur wird unter Betäubung immer mehr überfordert, immer insuffizienter, verkürzt sich, wird hyperton, die Beweglichkeit des Kopfes wird immer geringer und eingeschränkter. Es ist bekannt, dass solche Veränderungen der Halsmuskulatur ein buntes klinisches Bild auslösen können mit Sehstörungen, Hörstörungen, Tinnitus, Probleme der Kaufunktion, Missempfindungen im Gesicht bis hin zu neuropsychologischen Störungen (im internationalen Schrifttum auch `whiplash-associated disorder´ genannt.) Ein Verständnis der Mechanismen und Auswirkungen eines Schleudertraumas ist entscheidend für die effektive Behandlung und Rehabilitation der betroffenen Patienten, das von physikalischer und psychologischer Schmerztherapie begleitet wird und ohne betäubende Maßnahmen erfolgen muss, weil diese ab dem 3. Monat nur in zu begründenden Ausnahmefällen indiziert ist und zudem eine erfolgreiche muskuläre Rehabilitation erschwert bis verhindert. Der Begriff `Distorsion´– Verstauchung – wurde in Deutschland vor allem von Hellmut Erdmann, Chirurg und Radiologe, eingeführt, der darunter aber eine unklare Sammlung nicht-knöcherner Weichteilveränderungen verstand, also eben nicht eine Distorsion im engeren Sinne, wie sie aus anatonische Gründen ohnehin nur bei einer Hyperflexion nach dorsal auftreten könnte“.

Dr. Kügelgen gibt zu Beginn des Gesprächs die Information, dass gerade im Fall eines Schleudertraumas in der Vergangenheit wohl sehr viel Ungereimtheiten kommuniziert wurden, was die Diagnostik des Schleudertraumas bzw. dessen auch ärztliche Akzeptanz betrifft. Denn ein Schleudertrauma kommt oftmals vor allem nach Autounfällen vor und ist damit auch oft ein Fall für die jeweiligen Versicherungen, wenn es um Schmerzensgeld und Krankschreibungen geht. Und hier wurde brisanter Weise ein festgestelltes Schleudertrauma viele Male als solches nicht anerkannt. Dr. Kügelgen verfolgt die Erkrankung seit den 1980er Jahren und erklärt: „Es gibt einen einfachen Grundsatz: Wer heilt, hat Recht. Wir können hier in enger Zusammenarbeit mit der Unfallkasse Rheinland-Pfalz, die als Berufsgenossenschaft jeden Einzelfall sehr genau verfolgt, auf eine 95%ige Erfolgsquote in der Therapie blicken, was die Therapie eines Schleudertraumas betrifft. Grundsätzlich ist ein Schleudertrauma eine gut behandelbare Störung. Aufgrund unseres Erfolgs hat sogar die Unfallkasse Rheinland-Pfalz eine Sekundär-Prävention entwickelt, so dass es hier kaum noch chronifizierte Fälle gibt. Für uns ist ganz klar: Man kann ein Schleudertrauma vollständig ausheilen“. Ein Gespräch mit Dr. Kügelgen baut daher auf einem fundierten Wissen und einem weitreichenden Erfahrungsschatz auf, was diesem Gespräch damit eine besondere Qualität verleiht.

Ein Schleudertrauma tritt oft nach plötzlichen Bewegungen des Kopfes auf, wie sie beispielsweise bei Autounfällen, Stürzen oder Sportverletzungen auftreten können. 

Wichtig ist es, zunächst festzuhalten, dass bei einem Schleudertrauma nichts gebrochen ist – es ist keine knöcherne Verletzung. Typischerweise kommt es zu einem Schleudertrauma, wenn der Kopf plötzlich nach vorne und dann zurückgeschleudert wird oder umgekehrt, was zu einer Überdehnung der reflektorisch angespannten Nackenmuskulatur führt. Und dies ist mit weitem Abstand die häufigste Verletzung bei Unfällen im Straßenverkehr. Und in der überwiegenden Zahl der Fälle heilt ein Schleudertrauma auch von selbst aus. Nur ca. 2-5% der Patienten haben anhaltende Beschwerden, die nicht von alleine wieder weggehen. Bei diesen Menschen besteht das Problem, dass sie mit der Diagnose Schleudertrauma, ein paar Schmerzmitteln und (früher) einer Halskrause entlassen wurden. Ich habe mich schon vor vielen Jahren gegen eine solche Maßnahme ausgesprochen, die kaum stabilisierende Wirkung hat und einer normalen Bewegung des Kopfes entgegensteht, aber angenehm warm ist und auch eine gewisse Signalwirkung hat. Nach vielfacher Kritik wird das mittlerweile anerkannt“, konstatiert Dr. Kügelgen.

Die Symptome eines Schleudertraumas können vielfältig sein, aber Nackenschmerzen und Einschränkung der Kopfbeweglichkeit und eingeschränkte Ausdauer der Halsmuskulatur sind die häufigsten und charakteristischsten Symptome. Diese Schmerzen können von mild bis schwer reichen und sich oft verschlimmern, wenn der Kopf bewegt wird. Begleitend zu den Nackenschmerzen kann es auch zu einer Steifheit im Nacken kommen, wodurch es schwerfällt, den Kopf zu drehen oder zu neigen. „Patienten sprechen davon, dass sie das Gefühl haben, der Kopf fällt ab“, kommentiert Dr. Kügelgen. Kopfschmerzen sind ein weiteres häufiges Symptom eines Schleudertraumas und können ebenfalls von leicht bis schwer variieren. Manche Menschen erleben auch Schulterschmerzen, die vom Nacken in die Schultern oder Arme ausstrahlen können. „Zusätzlich können Schwindelgefühle, Sehstörungen, Kieferbeschwerden oder Übelkeit auftreten, insbesondere bei Bewegungen des Kopfes oder des Nackens. Ein weiteres mögliches Symptom ist Kribbeln oder Taubheitsgefühl in den Armen oder Händen. Das liegt daran, dass die Halsmuskulatur eine wichtige Funktion in der Bewegungsregelung hat und eine Funktionsstörung dieser Muskeln zu Schwindel und Brechreiz führen kann“, ergänzt Dr. Kügelgen.

Ein Schleudertrauma ist auch keine Verletzung der Wirbelsäule. Dies kann man daran festmachen, dass Patienten oft erst Stunden später nach dem Unfallereignis Beschwerden bemerken. Es kann sein, dass Betroffene im Krankenhaus waren, untersucht wurden, und nichts festgestellt wurde. Aber Zuhause angekommen, setzen nach einiger Zeit allmählich Beschwerden ein. Dadurch kann man die Wirbelsäule als Quelle der Ursache ausschließen, die nämlich sofort Schmerzen verursachen würde. Der Grund für den verzögerten Schmerz liegt in der oben dargestellten allmählichen Entwicklung der Stoffwechselaktivierung nach der Dehnung angespannter Muskeln. Die damit verbundene Schwellung löst Schmerzen und eine Bewegungseinschränkung aus. Vor allem aus der Sportmedizin ist bekannt, dass der erstklassig trainierte Sportler wie z. B. ein Formel-1-Fahrer nicht unter diesem Phänomen der Stoffwechselaktivierung leidet, wohl aber jeder andere. Ältere Moleküle der Muskulatur werden bei einer solchen Dehnung im angespannten Zustand über eine Stoffwechselaktivierung entsorgt, was mit einer allmählich zunehmenden Schwellung und allmählich zunehmenden Schmerzen und Bewegungseinschränkungen verbunden ist. Die Halsmuskulatur wird also im angespannten Zustand gedehnt, das passiert übrigens nicht nur im Straßenverkehr. Der Kopf wird bei solch einer Krafteinwirkung nach vorne, nach hinten, nach rechts oder nach links bewegt trotz angespannter Nackenmuskeln. Deswegen setzen auch die Schmerzen erst später ein“, erklärt Dr. Kügelgen zu der speziellen Besonderheit bei der Schmerzentwicklung bei einem Schleudertrauma. 

Was immer unterschätzt wird ist die Halteleistung der Halsmuskulatur. Dies trifft besonders z. B. auf Reisebusfahrer und auf Schreibtischberufe zu. Frauen sind häufiger betroffen. Bei Chronifizierung fällt es den Kranken zunehmend schwer, über einen gewissen Zeitraum konstante Haltearbeit zu leisten, also eine konstante Körperhaltung einzuhalten, weil dafür die gleiche Muskulatur für Halteleistungen benötigt wird, weswegen sie durch Haltungsänderungen alternierende Muskeln zu belasten versuchen. Was daher in keinem Fall bei einem chronischen Schleudertrauma hilft, ist die Ruhigstellung (meist in Kombination mit Schmerzmitteln). Hier läuft man Gefahr nach ca. vier Wochen einen chronischen Schmerz zu entwickeln. Die Muskulatur ist dann verquollen und massiv verkürzt. Und es gibt Patienten, die am Ende ihres Leidensweges auch Opioide nehmen“, verdeutlicht Dr. Kügelgen.

Bei der Diagnose und Bewertung eines Schleudertraumas ist eine umfassende Herangehensweise von entscheidender Bedeutung, um die spezifischen Verletzungen im Halsbereich genau zu identifizieren. 

Der Prozess beginnt in der Regel mit einer detaillierten Anamnese, bei der der Arzt den Patienten nach den Umständen des traumatischen Ereignisses befragt. Diese Anamnese liefert wichtige Hinweise für die weiteren diagnostischen Schritte. „Man muss den Patienten ganz genau befragen, was passiert ist. Es muss nicht ein Autounfall sein, der ein Schleudertrauma ausgelöst hat, es kann auch ein Kopfanprall aus anderen Ursachen erfolgt sein, auch im Schulsport. Nach der Anamnese folgt eine gründliche körperliche Untersuchung. Dabei wird der Nacken- und Rückenbereich auf Anzeichen von Verletzungsfolgen wie Schmerzen, Schwellungen oder Bewegungseinschränkungen (aktiv und passiv) untersucht. Der Arzt überprüft auch die Beweglichkeit des Nackens und testet die Muskelkraft. Darüber hinaus werden neurologische Tests durchgeführt, um die Funktion des Nervensystems zu bewerten. „Die Bildgebung erfolgt nur bei dem Verdacht auf eine knöcherne Verletzung der Wirbelsäule. Sogenannte degenerative Veränderungen sind hierbei nicht relevant!“, mahnt Dr. Kügelgen. 

Die Behandlung von Schleudertraumata zielt darauf ab, die Symptome zu lindern, die Heilung zu fördern und die Funktionsfähigkeit der Halsmuskulatur wiederherzustellen und die vielfältigen Begleiterscheinungen vollständig zurückzubilden. 

Physiotherapie spielt eine zentrale Rolle bei der Behandlung von Schleudertraumata. Ein individuell angepasstes Physiotherapieprogramm umfasst Übungen zum Abklingen des Reizzustandes wie Triggerpunktbehandlung, Dehnung zur Verbesserung der Verkürzung und damit der Beweglichkeit, Kräftigung der Halsmuskulatur und vor allem Schulung von Ausdauer und Koordination. Dazu gehört auch ein systematisches Pausenmanagement bei längeren Haltearbeit. 

`Keep moving´, so lautet das oberste Gebot. Bewegung ist ganz wichtig, auch wenn es weh tut, sobald keine Hinweise auf Kontraindikationen bestehen (instabile Wirbelfraktur). Statt übertriebener Vorsicht und nachhaltiger Schonung sollte ein systematisches leistungs-, nicht befindlichkeitsorientiertes Aufbautraining gestartet werden, bei dem nicht ein Kraftzuwachs, sondern Ausdauer und Koordination, das ist Bewegungsharmonie, im Mittelpunkt stehen. Die Muskulatur muss in einem guten Zustand gehalten werden, damit sie sich nicht verkürzt und ausreichend leistungsfähig bleibt. Nur dann kann eine Chronifizierung verhindert werden. Wenn die Schmerzen akut sind, hilft auch Kälte (z.B. in Form von Cool-Packs), und anfangs ist auch eine gelegentliche Einnahme von Stufe 1-Analgetika (keine Opioide) gestattet, aber nicht vor den Therapien. Physikalische und psychologische Schmerztherapie erlernen die Patienten in kurzer Zeit und damit Eigenkompetenz im Umgang mit Schmerz. Es ist die konsequente Umsetzung dieser einfachen drei Komponenten, die helfen, das Schleudertrauma zu überwinden und auszuheilen. Eine immer weiter zunehmende Insuffizienz der Halsmuskulatur an Halteleistung gilt es unbedingt zu vermeiden. Je weiter die Chronifizierung voranschreitet, umso aufwendiger wird der Weg zurück. Manche Patienten nehmen dann über Jahre Medikamente ein, lassen sich vielleicht 1–2-mal in der Woche `einrenken´ oder sich durch lokale Injektionen behandeln. Das alles sind akutmedizinische Linderungen, die aber nicht das Problem dauerhaft lösen. Das Problem ist und bleibt die Muskulatur. Diese muss aus ihrem Reizzustand gebracht, dann gedehnt werden und schließlich die notwendige Ausdauer und Koordination gewinnen. Patienten erhalten Informationen über Spannungsübungen, um die Haltungsleistung zu verbessern, und sie sollten diese Übungen als Intervalltraining durchführen, worin sie ein Physiotherapeut begleiten kann, der mit dem Patienten dann auch ein kurzes angemessenes tägliches Übungsprogramm überwachen und ggf. korrigieren soll“, erläutert Dr. Kügelgen und gibt noch Empfehlungen zur Prophylaxe: „Größte Bedeutung hat ein angemessenes Frühmanagement, bei jedem Verletzten mit solch einer Muskelfunktionsstörung. Von Anfang an muss die Aufrechterhaltung der Muskellänge und der Halteleistung im Mittelpunkt aller Therapien stehen“.

In der gesamten Diskussion um dieses Krankheitsbild spielt die Manualmedizin eine wichtige Rolle. Zahlreiche Beobachtungen bestätigen die Wirkung manualmedizinischer Maßnahmen, sei es im Sinne einer Manipulation (mit Impuls) oder einer Mobilisation (ohne Impuls), die eine prompte Linderung der Beschwerden ermöglichen. Es gibt zahlreiche Überlegungen, welche Funktionsstörung dieser erfolgreichen Therapie zugrunde liegt. Am wahrscheinlichsten ist eben auch hierfür die beschriebene Muskelfunktionsstörung verantwortlich, da eine solche manualmedizinische Maßnahme immer zu einer Refraktärphase der regionalen Muskulatur führt, die vorübergehend deutliche an Tonus verliert und in dieser Zeit eine erhebliche Beschwerdelinderung verursacht. Solche zweifelsfrei erfolgreichen manualmedizinischen Behandlungen sollten aber wie andere schmerzlindernde Maßnahmen nur am Anfang und wenige Male eingesetzt werden, bei Beschwerdepersistenz muss die Ursache im Sinne der Muskelfunktionsstörung angegangen werden. Dieses `Einrenken´ fühlt sich aber nur deshalb gut an, weil man dadurch im Weichteilsegment eine Minderung des Muskeltonus auslöst. Das ist nur eine vorrübergehende Linderung von einigen Stunden, die etwa auch durch eine Injektion eines Schmerzmittels zu erreichen wäre, und wird vom Patienten als Erfolg gewertet. 

In einigen Fällen können Berufsgenossenschaften oder Zivilgerichte Schwierigkeiten bei der angemessenen Bewertung von Schleudertraumata aufweisen. 

Probleme können auftreten, wenn bestimmte Gutachter oder veraltete Methoden verwendet werden, um die Schwere der Verletzung und die damit verbundenen Ansprüche zu bewerten. Eine Herausforderung besteht darin, dass Schleudertraumata oft subjektive Symptome aufweisen, die nicht leicht objektiv messbar sind. Dies führt manchmal dazu, dass die Glaubwürdigkeit der Betroffenen in Frage gestellt wird. 

Wichtig wäre im Fall des Schleudertraumas eine Versachlichung der Diskussion. Das Krankheitsbild muss vollständig verstanden werden. Aufklärung tut hier Not! Bei Rechtsanwälten und Versicherungen geht es am Ende immer nur um Geld, aber nicht um das Wohl des Patienten. Denn es bleibt so, dass das Schleudertrauma das häufigste Krankheitsbild im Straßenverkehr ist. Es ist ein schwerer methodischer Fehler, wenn versucht wird, ein medizinisches Problem juristisch oder politisch oder gar durch Kfz-Gutachter zu lösen, anstatt von medizinischen Fachleuten eine sachgemäße und nachvollziehbare Lösung herausarbeiten zu lassen“, so Dr. Kügelgen.

Nun noch ein Wort zur Literatur:

1995 erschien die sehr aufwendige Publikation der Quebec Task Force. In einer Literaturanalyse von 10.036 Publikationen wurden gerade 62 (= 0,6%!) methodisch korrekte lesenswerte Arbeiten gefunden, aber auch diese konnten das Rätsel nicht lösen. Über 90% der Literatur befasst sich mit der Begutachtung. Nun lässt sich ein medizinisch unklares Problem nicht in der Begutachtung lösen.

Diese Studie unterteilt das Schleudertrauma in verschiedene Grade mit entsprechenden Empfehlungen, in den problematischen Gruppen 1 bis 3 steht aber nach 12 Wochen nur die Reevaluation an. Die Autoren räumen selbst ein, dass noch viel zu tun ist, um das Rätsel zu lösen: 

The void, unfortunately, about what is known in prevention, diagnosis and rehabilitation is particularly noteworthy. ... Despite the paucity of scientific evidence, we redefined and formally classified WAD*. 

*whiplash associated disorder

Viel zu wenig beachtet wurde, dass es sich um eine sehr umfangreiche Arbeit handelt, die aber ausschließlich auf Versicherungsakten beruht. Eine eindeutige klinische Diagnostik zum Beleg bzw. Ausschluss des Krankheitsbildes enthält die Arbeit nicht. Das gleiche gilt für die ebenfalls häufig zitierte Studie aus Litauen, die einen Zusammenhang zwischen Häufigkeit der Diagnose Schleudertrauma und Versicherungssystem beschreibt. Dass zwischen Entwicklung des Versicherungssystems und Umgang mit Krankheiten ein Zusammenhang besteht, ist banal. Dies ändert aber nichts an den Regeln, wie ein Arzt eine Diagnose feststellt. Nachdem es sich auch hier um eine reine Aktenstudie handelt, ist ihre Aussage über das Krankheitsbild wertlos.

Von 1998 bis 2013 wurde von einem Orthopäden in Deutschland wie übrigens auch in anderen Ländern auf Betreiben von Versicherungen versucht, das klinisch unklare Krankheitsbild über die Untersuchung der an einem Unfall beteiligten Fahrzeuge auszuschließen. Dieses verwegene, allen Regeln der klinischen Medizin widersprechende Vorgehen hat es in der Rechtsprechung bis zum Bundesgerichtshof geschafft und zu etwa 500 Kfz-Gutachterstellen allein in Deutschland, die solche Beurteilungen an Fahrzeugen vornehmen. Dabei gibt es Regeln, wenn ein Krankheitsbild in apparativer Diagnostik erfasst oder ausgeschlossen werden soll: 

  • Sensitivität (Werden tatsächlich Kranke als krank erkannt?)
  • Spezifität (Werden tatsächlich Gesunde als gesund erkannt?)
  • Validität (Messen wir wirklich das, was wir messen wollen?)
  • Reliabilität (Reproduzierbarkeit der Messwerte)
  • Messfehler (Streubereich, immer anzugeben).

Das ist nie gemacht worden, da das eigentliche Krankheitsbild nie klinisch klar definiert worden war. Noch tollkühner ist der Versuch nachzuweisen, dass es zu einer Verletzung wie dem Schleudertrauma auch bei einem simulierten Auffahrunfall kommen kann. Diese sehr viel zitierten Publikationen sind kaum gelesen worden, denn sonst wären die vielfältigen methodischen Mängel aufgefallen. Außerdem: Diese Verletzung kommt nicht nur bei Verkehrsunfällen vor, da ist die Geschwindigkeitsdifferenz 0. Auffallen muss doch, das eine solche Untersuchung mit einem angeblich hohen diagnostischen Wert dann auch Eingang in die normale klinische Diagnostik finden müsste außerhalb der Begutachtung. Bis heuten führt keine Universitätsklinik diese Untersuchung durch. 2013 dann wurde der Autor von zwei deutschen Landgerichten als nicht zuverlässiger Gutachter entlarvt. Schließlich wäre es sehr gut, wenn sich Ärzte wieder auf Diagnose und Therapie dieses Krankheitsbildes konzentrieren und Gutachter den dort gewonnenen Erkenntnissen folgen und Gerichte dann durch nachvollziehbare Gutachten überzeugen“, macht Dr. Kügelgen sehr deutlich, und damit schließen wir das Gespräch über dieses so brisante Thema.

Herzlichen Dank, Herr Dr. Kügelgen, für dieses so offene und sympathische Gespräch zum wichtigen Krankheitsbild des Schleudertraumas!

Literaturhinweise

Das Schleudertrauma - ein lösbares Problem. Kügelgen, B. (2011). In: Kress, H. G. (Hrsg), Aktuelle Schmerztherapie - Standards und Entwicklungen. ecomed Medizin, Landsberg. Darin enthalten: Konsensus zum Schleudertrauma

Distorsion der Halswirbelsäule. Kügelgen, B. Hrsg. (1995) Neuroothopädie 6. Springer, Heidelberg, New York

Schrader et al. (1996) Natural evaluation of late whiplash syndrome outside the medicolegal context. Lancet 347 (9010), 1207-1211

Spitzer W O et al. (1995) Scientific monograph of the Quebec Task Force on Whiplash-associated Disorders: redefining “whiplash” and its management. Spine 20: 1-73

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